Based upon findings in social history and the sociology of professions, this thematic issue presents a new approach to the Nuremberg trials. We advance, in particular, two perspectives that have not been previously looked at. Some contributions take a closer look at the staff members who ran the legal and administrative clean-up procedures in occupied Germany, and, related to that, at the formation of new transnational expert fields. Other contributions analyse the professional cultures that have dramatically changed during and after the Second World War.
The Nuremberg Trials. New Perspectives on the Professions
Vol. 26 No. 4 (2016)
Herausgegeben von Guillaume Mouralis und Marie-Bénédicte Vincent
Articles
Dieser Beitrag untersucht die Zusammensetzung der französischen Anklage vor dem internationalen Militärtribunal in Nürnberg. Ausgehend von der Annahme, dass fast alle französischen Ankläger in dem Prozess gegen die Hauptverantwortlichen der deutschen Kriegsverbrechen bewährte Richter oder Staatsanwälte ihres Landes waren, geht es um die Maßstäbe, nach denen sie vom französischen Justizministerium ausgewählt wurden. Es werden außerdem die persönlichen Motivationen behandelt, die hinter der Bereitschaft standen, am Militärtribunal teilzunehmen. Mehr noch, es soll nachgewiesen werden, dass der biographische und berufliche Hintergrund der Verteidiger einen direkten Einfluss auf ihre Argumentation während des Prozesses hatte. Diese Faktoren müssen berücksichtigt werden, wenn man die Debatten der Alliierten in Nürnberg verstehen will, z. B. bezüglich der Frage einer deutschen Kollektivschuld.
Der Beitrag untersucht die Rolle der Nürnberger Prozesse für die Professionalisierung von Dolmetschern auf internationalen Konferenzen. Die Entscheidung der Alliierten zur Strafverfolgung von NS-Kriegsverbrechern erforderte das erste Mal in der Geschichte den umfassenden und lang andauernden Einsatz von Simultanübersetzung. Das große internationale Interesse an dem Tribunal und die Notwendigkeit, die simultane mündliche Übersetzung von Ansprachen, Aussagen und Gerichtsdokumenten in die vier offiziellen Gerichtssprachen zu gewährleisten, schärfte bei Nutzern, Berichterstattern und Übersetzern gleichermaßen den Blick für die gewachsenen Anforderungen an Übersetzungen. Die Nürnberger Prozesse wurden damit ungewollt zu einer Ausbildungsstätte für Übersetzer, da die Mehrzahl von ihnen ihre Kenntnisse während ihrer Tätigkeit in Nürnberg erwarben, und verhalfen der Simultanübersetzung zum Durchbruch, was sich auch darin zeigt, dass die Vereinten Nationen sie unmittelbar im Anschluss übernahmen. Dieser Prozess ging mit einer steigenden Zahl weiblicher Übersetzer einher, worin sich bereits die spätere Feminisierung des Berufs ankündigt.
Wir wissen, dass Franz Leopold Neumann, Autor des Behemoth – Struktur und Praxis des Nationalsozialismus, schon 92 wegen seiner außergewöhnlichen Analyse des NS-Deutschland von den amerikanischen Geheimdiensten rekrutiert wurde. Er stand daher in der Vorbereitung des internationalen Militärgerichtsprozesses von amerikanischer Seite an vorderster Stelle. Aber seine Rolle ist kaum bekannt und schwer zu fassen. Wir versuchen, im Rahmen des Möglichen – u. a. sind noch nicht alle Archive zugänglich – seine Rolle und seinen Einfluss zu präzisieren und insbesondere Neumann gegenüber denen zu rehabilitieren, die ihm jüngst vorwarfen, die Ausmaße des Antisemitismus im NS-System negiert zu haben. Dafür muss man Neumanns Aufmerksamkeit für die historische Bedeutung des Nürnberger Prozesses Ende der 90er Jahre berücksichtigen, als er an der Erneuerung des Universitätslebens in Deutschland mitwirkte.
Forschung über das internationale Strafrecht fokussiert für gewöhnlich auf strategische Entscheidungen der Ankläger, die die Aufnahme von Ermittlungen, die Kompetenz der Staatsanwaltschaft und den Geltungsbereich der juristischen Verfolgung von Kriegsverbrechen betreffen. Darüber hinaus gibt es wenig Erkenntnisse darüber, wie Strafverfolgungen innerhalb der internationalen Strafgerichtsbarkeit begründet werden. Auf der Grundlage der Anklageeröffnungen von vier Chefanklägern des Internationalen Militärgerichtshofes in Nürnberg sowie der Eröffnungsreden dreier Fälle vor dem Internationalen Strafgerichtshof untersucht dieser Beitrag die Bandbreite der Begründungen, die Strafverfolger in internationalen Strafgerichtsprozessen heranziehen. So ist zu erkennen, dass die Ankläger in Nürnberg auf eine Vielzahl von Begründungen aufbauten, während sich die Anwälte des Internationalen Strafgerichtshofes auf ein engeres System an Begründungen beriefen. Darüber hinaus zeigen Interviews, dass die Ankläger beider Gerichte jeweils geopolitischen Parametern unterworfen waren und dass die Nürnberger Ankläger sich auf stärker ausformulierte Rechtsbegründungen stützen konnten als die Ankläger des Strafgerichtshofes.
Der Band aus der „Grünen Reihe“ der Dokumentenbände, der den Nürnberger Prozessen gewidmet ist, kann als ein Stück Rechtsgeschichte gelesen werden, welches die rechtliche Argumentation aufzeigt, die von den Staatsanwälten und von der Verteidigung angewendet wurde. Solch eine Untersuchung kann erklären, warum die amerikanische Staatsanwaltschaft nicht alle Konsequenzen der tiefen Verstrickung des Juristenstands in das NS-Regime aufgezeigt hat und wie die Verteidigung verschiedene Argumente nutzen konnte, um die Angeklagten zu entlasten und ihre Verantwortung abzuschwächen. Ohne dass es zu einer Solidarisierung zwischen den amerikanischen und deutschen Juristen gekommen wäre, vertiefte der Prozess gegen die Juristen den falschen Eindruck, dass Juristen eher Opfer als Mittäter des Naziterrors gewesen sind.
This contribution analyses opinions of as well as about the process against the judges and lawyers at Nuremberg in 97 by promoting two perspectives. On the one hand, the central focus lies on the direct perception of the verdicts by the professional audience. The main sources for this study are judicial journals of the time and transcripts of judicial conferences. By analysing such discourses in a more differentiated manner (e.g. the famous essay by Gustav Radbruch), one can gain a deeper insight into its complexity. On the other hand, the perception of these discourses are placed into the larger context of the jurists’ self-positioning and professional ethos. It becomes clear that the feeling of social exclusivity and the traditional professional ethos, which was already well developed during the time of the Weimar Republic, greatly hindered a (self-)critical view towards the position of the legal profession under the Nazi regime.