Begriff und Sachverhalt „zeremonieller Pädagogik“ gehören nicht gerade zum Kernbestand historisch-sozialwissenschaftlicher Forschung. Der Artikel unternimmt zunächst eine Klärung des Konzepts im Verweis auf vormoderne Traditionen des Zeremonialwesens und deren radikale Uminterpretation in der Französischen Revolution. Die damit gegebenen Bestimmungsstücke machen deutlich, dass „zeremonielle Pädagogik“ weit über den Raum von Schule im engeren Sinne hinausgeht. Sie bezieht sich vielmehr auf (kontextabhängig durchaus variierende) Formen einer ästhetisch-medial – durch öffentliche Feste, Raumarchitektur, symbolische Inszenierungen oder kollektive Rituale – vermittelten Repräsentation von Programmen für die Neuordnung ganzer Staaten und Gesellschaften, wie sie typischerweise im Zusammenhang mit revolutionären Umbrüchen entworfen werden. Konstitutiv für das Konzept ist überdies eine mit „zeremonieller Pädagogik“ verbundene instrumentelle Absicht: Sie ist darauf angelegt, auf die breite Masse der jeweiligen Bevölkerung bewusstseinsformend einzuwirken und die revolutionären Neuordnungsprogramme sozialisatorisch zu verankern. Als fruchtbare Fälle für eine historisch-vergleichende Analyse „zeremonieller Pädagogik“ bieten sich an: Japan im Gefolge der Meiji-Revolution von 1868, die frühe Sowjetunion der 1920er und 1930er Jahre sowie Mexiko nach der Revolution von 1910. Diese Vergleichsfälle stehen im Zentrum eines Forschungsprojekts zum Thema, das als Teilprojekt des Sonderforschungsbereichs 640 an der Humboldt-Universität zu Berlin durchgeführt wird und dem die Beiträge dieses Sonderheftes entstammen. Unter Stichworten wie „nationale Integration“, „kulturelle Homogenisierung“ und „Modernisierung“ werden schließlich die theoretischen Perspektiven entwickelt, die diese Forschungen konzeptionell anleiten.
Remodelling Social Order through the Conquest of Public Space: Myths, Ceremonies and Visual Representations in Revolutionary Societies
Vol. 19 No. 2-3 (2009)
Herausgegeben von Jürgen Schriewer
Articles
Die Gründung der „Nation“ im Japan der Meiji-Zeit (1868–1912) erforderte neue Methoden des „social engineering“ und führte zu neuartigen Inszenierungen politischer Macht, Autorität und Legitimität im öffentlichen Raum. In diesem Beitrag soll skizziert werden, wie die junge MeijiRegierung überhaupt erst einen öffentlichen Raum schuf und diesen dann zum Zwecke einer national-integrativen Politik nutzte, indem sie ihn mit personalisierten nationalen Symbolen besetzte. Im Vordergrund steht dabei das Medium der Bronzestatue. Fast eintausend Statuen von historischen Persönlichkeiten wurden in Japan bis zum Beginn des japanisch-chinesischen Krieges im Jahre 1937 im öffentlichen Raum errichtet. Das Medium der Statue spielte damit eine wichtige Rolle im Rahmen der nationalen Indoktrinationspolitik und der Schaffung eines nationalen Bewusstseins in der japanischen Bevölkerung.
Im Zentrum der ideenpolitischen Bemühungen, die die japanischen Eliten der Meiji-Ära (1868– 1912) unternahmen, um das Land in modernem Gewand, doch auf traditionellen Grundlagen zur Nation zu formen, standen der Tennō-Kult und die allgemeine staatliche Pflichtschule. Zwischen der Verabschiedung der Verfassung des Kaiserlichen Japan im Jahr 1889 und dem Erlass des Kaiserlichen Erziehungs-Edikts im Jahr 1890 bestand insofern ein enger politisch-ideeller Zusammenhang. Der Artikel verfolgt die konflikthaften Auseinandersetzungen, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zwischen den Verteidigern altjapanischer Bildungstradition und den Anhängern westlicher Aufklärung, zwischen konfuzianischen Intellektuellen und westlich orientierten Demokraten, ausgetragen wurden. Er entwickelt vor diesem Hintergrund die weder selbstverständliche noch einlinige Genese der normativen Grundlagen des modernen Japan. Die Autoren beschreiben die wechselnden Inszenierungen, die in diesem Zusammenhang dem Tennō zuteil wurden: von seiner anfänglichen Rolle als öffentlich sichtbarem Symbol der Einheit der Nation (auf landesweiten Rundreisen oder Militärparaden) über den völligen Rückzug hinter die Palastmauern (in Konsequenz seiner Sakralisierung durch den erstarkenden Staats-Shintō) hin zu seiner indirekten Rückkehr in den öffentlichen Raum (in Form eines hochstilisierten und kultisch verehrten Konterfeis). Und sie schildern – unter Einbezug auch autobiographischer Reminiszenzen – sowohl die aus buddhistischer Tradition übernommene sakrale Überhöhung der modernen Schule wie die zeremoniellen Präsentationsformen des kultisch verehrten Tennō-Bildes und die von ihm ausgehenden sozialintegrativen und loyalitätsstiftenden Wirkungen.
Auf den – gemeinhin als Meiji ishin bezeichneten – politischen Umbruch vom Frühjahr 1868 folgte ein Jahrzehnt revolutionären Wandels, der die japanische Gesellschaft von Grund auf umgestaltete. Ohne die Berücksichtigung kultureller Praktiken jedoch lassen sich die Stoßrichtung und Tragweite dieser „Meiji-Revolution“ nicht erfassen. Der Beitrag untersucht daher den Wandel anhand des Mediums öffentlicher Ausstellungen. Die Institution der Ausstellung offenbarte die revolutionären Ansprüche und Praktiken der neuen Eliten sowie die Reaktionen der Bevölkerung auf diese Ansprüche und Praktiken mit besonderer Deutlichkeit, denn es gab während der Meiji-Zeit keine andere Veranstaltungsform, die so viele Menschen an einem einzigen Ort hätte zusammenbringen können. Es wird gezeigt, dass Ausstellungen weniger Abbilder als vielmehr Träger des Wandels waren: Mit ihnen und durch sie ließen sich politische Ambitionen artikulieren, welche die im Entstehen begriffene Nation repräsentierten, Ordnungen des Wissens verhandelten und neuartige Konsumkulturen erprobten. Ihre Durchführung ließ dabei stets unterschiedliche, ja, entgegengesetzte Tendenzen hervortreten: Kontinuitäten und Brüche, wobei, längerfristig betrachtet, letztere dominierten.
Die Bolschewiki versuchten in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, die analphabetische Bevölkerung des sowjetischen Imperiums durch Praktiken der zeremoniellen Pädagogik zu erreichen und zu disziplinieren. Voraussetzung aller Integration aber war die Indigenisierung der lokalen Herrschaftsverhältnisse. Sie führte zu einer kulturellen Nationsbildung, die am Ende in einen Konflikt mit der sozialistischen Ordnungsstrategie geriet. Als die Bolschewiki im Kaukasus und in Zentralasien damit begannen, die lokalen Gesellschaften durch Erziehungskampagnen zu verändern, wurden die nationalen Eigenschaften der lokalen Gesellschaften in Frage gestellt. Der Konflikt um Souveränität und Deutungshoheit entzündete sich an der Frage, welche Funktion die Frauen in der neuen Gesellschaft spielen sollten. Sie sollten befreit werden, sagten die Bolschewiki. Sie sollten bleiben, was sie waren, sagten die Dorfbewohner, weil bolschewistische Frauen aufgehört hätten, Muslime zu sein. Der Tschador wurde zum symbolischen Streitobjekt der Kontrahenten, und in der Auseinandersetzung wurde er für die einen zu einem Symbol der Rückständigkeit und für die anderen ein Symbol nationaler Eigenständigkeit. In z. T. dramatischer Zuspitzung demonstrieren die Ereignisse im sowjetischen Orient, wie Repräsentationen die Welt nicht nur abbilden, sondern sie so verändern, daß nichts mehr ist wie zuvor.
Die Machbarkeitsphantasien der bolschewistischen Revolutionäre trafen 1917 auf die russische Wirklichkeit. Die Hygienepolitik bildete hierbei keine Ausnahme. Die Bolschewiki versuchten in den 1920er und 1930er Jahren, ihre Vorstellungen von sauberen Lebensweisen und gesäuberter Umwelt massenwirksam zu vermitteln. Sie bedienten sich dabei verschiedener Methoden zeremonieller Pädagogik. Die Medialisierung hygienepolitischer Imperative erfolgte vermittels spezifischer Bildersprachen und Praktiken. Der Artikel fragt nach den Wurzeln bolschewistischer Hygienepolitik. Er beschreibt die Entwicklung hygienepolitischen Denkens nach der Revolution. Und er zeichnet nach, wie die Repräsentationen bolschewistischer Hygienepolitik kontextabhängig angeeignet wurden
Der Artikel unternimmt eine Analyse der innermexikanischen Besuchs-, Erkundungs- und Kontrollreisen, die Lázaro Cárdenas zwischen 1934 und 1940 in seiner Eigenschaft als Präsident von Mexiko unternommen hat. Grundlage der Untersuchung sind die Darstellungen der präsidentiellen Reisetätigkeit in der mexikanischen Presse. Die Reisen werden sowohl unter Gesichtspunkten der Repräsentation der persönlichen und institutionellen Macht des Präsidenten als auch im Hinblick auf die Konstruktion von Herrschaft untersucht. Im Ergebnis schälen sich drei Aspekte heraus, die mit den Präsidentenreisen politisch und symbolisch aufs Engste verknüpft waren: Zum einen waren es Intentionen der nationalen Integration, die – nicht anders als im Fall der Reisetätigkeit des japanischen Tennō zum Beginn der Meiji-Ära – beim Arrangement der zum Teil landesweiten Reisen im Vordergrund standen. Zum anderen erzeugten diese Reisen, gerade weil sie mit direkten Interventionen eines moralisch unanfechtbaren Präsidenten in lokale Angelegenheiten verknüpft waren, eine Aura charismatischer Führungsstärke und Autorität. Und schließlich wirkte insbesondere die Presseberichterstattung über diese Reisen daran mit, die Menschenmengen, die der Präsident traf und mit denen er interagierte, als „Massen“ zu konstruieren. Der Artikel endet mit dem Befund, dass diese Reisen, auch wenn sie für die Stärkung von Cárdenas’ Herrschaft ungemein erfolgreich waren, gleichwohl nicht-intendierte Folgen hatten. Denn in eben dem Maße, wie Cárdenas nachgerade zur „personifizierten Repräsentation“ der Revolution avancierte, wurden die post-revolutionären Institutionen, welche seine Regierung zum Zwecke der weiteren politischen Konsolidierung aufgebaut hatte, wiederum unterminiert.
Der Artikel untersucht die Wirkungsmöglichkeiten, die im post-revolutionären Mexiko dem Sport – verstanden als körperliche Betätigung wie als öffentliches Schauspiel – seitens der politischen und militärischen Eliten zugeschrieben wurden. Der Artikel skizziert dabei die Zusammenhänge mit den im zeitgenössischen Kontext verbreiteten evolutionstheoretischen Annahmen lamarckistischer Prägung; er unterstreicht die Rolle des Sports als einer Betätigung, die sich durch spezifische Räume, ein eigenes Ethos und besondere Rangordnungen von allem Bekannten und Geläufigen abhob; und er verweist auf die Rolle des Sports als Bindeglied zwischen einer militarisierten Schule und einer Armee, die ihrerseits als zentrale Erziehungsinstanz und Medium der Modernisierung angesehen wurde. Die in Streitkräften und Polizei praktizierten unterschiedlichen Turnübungen und Sportarten – von der Bildung menschlicher Pyramiden mit ihrer rigiden Eingliederung des Einzelnen in gestufte Ordnungen bis zum Mannschaftssport und seinen Erfordernissen, das Handeln individueller Akteure zur Erreichung gemeinsamer Ziele aufeinander abzustimmen – wurden nicht nur im Hinblick auf explizit angestrebte Ziele der Disziplinierung gefördert. Sie erfuhren Förderung auch wegen der indirekten Wirkungen, die ihnen zugeschrieben wurden: nämlich als Alternativen zu religiösem Fanatismus oder zum Abgleiten in Prostitution und Alkoholmissbrauch zu fungieren. Schließlich kommt im Artikel zum Ausdruck, welche Rolle der Sport bei der „Institutionalisierung” der revolutionären Heere in einer „Nationalarmee” und einer nationalen Polizei spielte, sei es in Form der politischen Inszenierung des Bildes einer disziplinierten und der zivilen Regierung untergeordneten Armee, sei es als Instrument zur Ermittlung und Aussonderung derjenigen Elemente, welche dem postrevolutionären Regime und seinem Programm mit Ablehnung oder Feindseligkeit begegneten.
Forum
This essay focuses on the consequences that new perspectives on slavery and slave trade as well as the political functionalising of the past are having on historical sciences, addressing the recent forms of public commemoration of slavery and slave trade in European countries. This debate is especially fostered by the global discourse on coming to terms with the past and the UN-declaration of slavery as a crime against humanity. The differing narratives on slavery from governments, museums, victims, historians and NGOs are shaping the historical awareness within European societies. The breaking of silence on slave trade is resulting in various commemoration activities, exhibitions, slavery monuments and new research institutions. Thus the need for specific attention and research in the field of politicized public history and the upholding of their scientific standards against a normative history narrative is emerging within historical sciences. Only in this way can history produce insight in the mechanisms of guilt, responsibility and historical injustice.